Emotionale Abhängigkeit: Konkrete Muster erkennen und lösen
In der Partnerschaft läuft es zwar nicht so richtig rund, aber eine Trennung steht außer Frage. Zu groß ist die Angst vor dem Alleinsein. Davor, nicht mehr geliebt zu werden. Also verbiegen sich manche Menschen, opfern ihr Selbstwertgefühl und ihre Chance auf Glück dafür, nicht allein zu bleiben. Häufig steckt hinter diesem Muster eine emotionale Abhängigkeit.
„Für die Liebe muss man Opfer bringen!“
Nein, muss man nicht. Ganz und gar nicht! Diese sehr idealisierte Vorstellung von Liebe ist ein romantisches Konstrukt, das uns in Liebesfilmen und Romanen begegnet. Millionär trifft auf armes Mädchen, Mädchen verlässt Freunde und Familie, nimmt ab, schminkt sich mehr und kleidet sich besser – zack, der Millionär verliebt sich endlich in sie. So oder so ähnlich sind viele Geschichten rund um die Liebe gestrickt. Es dreht sich vieles um Verzicht, um Opferbereitschaft und darum, sich selbst für den anderen aufzugeben. So herzerweichend diese Geschichten auch sind, sie sind für unseren teils etwas verzerrten Blick auf die Liebe verantwortlich.
Denn Liebe verlangt keine Opfer, Liebe fordert keinen Verzicht ein, Liebe streitet nicht um Aufmerksamkeiten. Wer liebt, der liebt. So einfach könnte es sein.
In der Realität erlebt man Liebesbeziehungen oft anders. In manchen Partnerschaften wird auf emotionaler Ebene erpresst, es gibt Eifersuchtsszenen und Forderungen nach Exklusivität, Menschen verleugnen eigene Bedürfnisse und Wünsche, um es der Partnerin oder dem Partner möglichst recht zu machen. Das schadet allen, vor allem aber der Liebe in der Beziehung.
Ein roter Faden zieht sich durch diese Beziehungstypen: die emotionale Abhängigkeit vom Partner. Nicht die normale, ganz und gar erwünschte Bindung an den Herzensmenschen ist hier gemeint, sondern die Art Abhängigkeit, die den Partner oder die Partnerin zum absoluten Lebensinhalt werden lässt.
In der Beziehung fallen dann typischerweise Sätze wie:
- Ohne dich könnte ich nicht leben!
- Ich weiß gar nicht, was ich ohne dich machen sollte!
- Du weißt gar nicht, wie gut du es mit mir hast!
- Du findest nie wieder so jemanden wie mich!
- Du gehörst mir/ich gehöre dir.
- Ich fühle mich leer, wenn du nicht da bist.
- Ich brauche dich, um glücklich zu sein.
- Ich habe Angst, wenn ich an eine Trennung denke.
In einer gesunden und stabilen Beziehung fallen diese Sätze kaum – und wenn, dann in einer deutlich geringeren Intensität. Ein emotional abhängiger Mensch dagegen fühlt sich vollständig verloren, verängstigt und verlassen, wenn sich sein Herzensmensch distanziert.
Was hinter der emotionalen Abhängigkeit steckt
Ganz konkret ist emotionale Abhängigkeit eine Form der Persönlichkeitsstörung, die von Psychologen behandelt werden kann und auch behandelt werden sollte. Sie tritt meistens mit einem stark verminderten Selbstwertgefühl auf. Zu den weiteren Symptomen zählen auch
- große Ängste vor dem Verlassenwerden
- starke Eifersucht
- massives Kontrollverhalten
Betroffene trauen sich selbst nichts zu, können aus sich selbst heraus keine Zufriedenheit schöpfen und verlagern ihr Streben nach Glück deshalb nach außen. So mancher Workaholic stärkt seinen Selbstwert, indem er möglichst viel arbeitet – und das ununterbrochen.
In der Liebe hängt dagegen alles am Partner: Ist die Partnerin oder der Partner glücklich, ist es der oder die emotional Abhängige auch. Es wird alles darangesetzt, dieses Glück zu erhalten. Eigene Grenzen zählen nicht, werden permanent übertreten und verschwimmen im Laufe der Zeit immer mehr.
Befindet man sich in einer solchen Partnerschaft mit einem emotional abhängigen Partner oder einer emotional abhängigen Partnerin, sind diese Grenzen kaum zu greifen. Konkrete Fragen werden ausweichend beantwortet, der Herzensmensch bietet einem kaum die Chance, sie oder ihn wirklich zu sehen. Denn alles verbirgt sich hinter einer aufgesetzten Freundlichkeit, die keinen Blick hinter die Fassade erlaubt. Die typische Antwort auf „Was sollen wir heute essen?“ oder auf „Welchen Film magst du am Wochenende anschauen?“ lautet deshalb häufig: „Ach, entscheide doch du!“
Der Grund für dieses ausweichende Verhalten ist die tiefsitzende Angst, die Partnerin oder den Partner zu verärgern, die Liebe zu verlieren – und verlassen zu werden. Denn emotional Abhängige können sich absolut nicht vorstellen, ohne Partner glücklich sein zu können.
Wie sich emotionale Abhängigkeit bei Frauen äußert
Anpassungs- und Opferbereitschaft zählen bei Männern und bei Frauen zu den Eigenschaften, die eine emotionale Abhängigkeit neben dem geringen Selbstwertgefühl noch begünstigen. Bei Frauen kommt hinzu, dass sie sich in Beziehungen eher den körperlichen Bedürfnissen des Partners unterordnen. Sie stellen sich selbst und das, was sie zum Glücklichsein eigentlich bräuchten, hintenan:
- gekocht und gegessen wird, was der Partner sich wünscht
- getragen wird die Kleidung, die dem Partner gefällt
- der Freundeskreis beschränkt sich auf die Personen, mit denen der Partner gut zurechtkommt
- Hobbys und andere Freizeitaktivitäten werden danach ausgesucht, ob der Partner sie gern ausüben würde
Besonders in gewaltvollen Beziehungen sind es häufig die weiblichen Opfer, die sich trotz der Konflikte ein Leben ohne Partner nicht vorstellen können. Unter anderem deshalb wird Gewalt in der Beziehung nur selten gemeldet, blaue Flecken vertuscht und erlebte Aggression heruntergespielt.
Für Außenstehende ist wichtig: Emotional Abhängige können ohne eigenen Willen und stärkende externe Hilfe kaum aus solchen Konfliktbeziehungen herausfinden. Als Familie, Freund oder Freundin einer emotional Abhängigen kann man ihr höchstens den Rücken stärken und immer weiter betonen, wie wertvoll sie selbst – als Mensch – ist.
Wie sich emotionale Abhängigkeit bei Männern äußert
Emotional abhängige Männer tun absolut alles für die Liebste – auch, indem sie trotz anderer Gefühle als bester platonischer Freund auf eine erfüllende Beziehung verzichten. Während emotional abhängige Frauen tendenziell eher mehr Sex haben, ist es bei Männern umgekehrt. Sie drosseln das eigene sexuelle Verlangen viel eher, verzichten auf körperliche Nähe und Intimität, wenn die Partnerin diese Nähe nicht ausdrücklich einfordert.
Ähnlich wie emotional abhängige Frauen stecken auch Männer zurück, geben Freunde und Hobbys auf, verändern Aussehen und Gewohnheiten so lange, bis sie dem vermeintlichen Idealbild der Partnerin entsprechen. Immer in der Hoffnung, sie auf diese Weise glücklich zu machen, an sich zu binden und so auch selbst das Glück spüren zu können.
Glück entsteht im Kleinen: Wege aus der emotionalen Abhängigkeit
Tatsächlich kann der unabhängige Part in der Beziehung die hohen Erwartungen seines Gegenstücks nie erfüllen, ohne sich selbst zu verlieren. Schließlich will man in der Beziehung nicht nur selbst glücklich sein, sondern auch die Partnerin oder den Partner erfüllt und glücklich machen. Ganz bewusst, ganz konkret und aktiv. Aber Glück kann der oder die emotional Abhängige nur über externe Bestätigung erfahren, indem er oder sie jemand anderen glücklich macht. Das ergibt einen Teufelskreis, der beide schlussendlich in den Abgrund führt.
Menschen mit einem geringen Selbstwertgefühl blicken deshalb oft auf eine ganze Reihe an gescheiterten Beziehungen zurück – und fühlen sich darin bestätigt, sich noch mehr anstrengen zu müssen, um den oder die Nächsten auch sicher halten zu können. Irgendwann hätte man den Dreh heraus, könnte sich optimal um die Seelenverwandten kümmern. Und auch diese Leere in einem selbst, die würde dann verschwinden.
Das tut sie aber nicht. Glück und Bestätigung aus einem selbst heraus erleben und genießen, ist für emotional Abhängige schier unvorstellbar. Es gibt allerdings Strategien, um sich von diesen ungesunden Lebens- und Beziehungsmustern zu lösen:
- Echte eigene Grenzen aufspüren und künftig beachten
Dem Partner zuliebe ist man jahrelang jeden Freitagabend mit in die Stammkneipe gegangen, aber eigentlich mag man den Abend lieber allein daheim verbringen? Oder andersherum hat man der Partnerin vielleicht immer und immer wieder versichert, die Urlaube mit den Freundinnen könne sie ruhig ohne Partner machen, das störe einen gar nicht?
Kompromisse gehören natürlich zu einer glücklichen und stabilen Beziehung. Es ist ein Nehmen und Geben, welches letztlich beide Partner glücklich stimmt. Wenn allerdings nur einer gibt und der andere – zwangsläufig – ausschließlich nimmt, verschiebt sich das Machtgefälle. Fällt es dem emotional Abhängigen oder der emotional Abhängigen anfangs noch schwer, Grenzen aktiv zu setzen, kann externe Hilfe von einem Mediator oder Paarcoach helfen, neue Regeln für die partnerschaftliche Kommunikation zu finden. - Ehrlich sein – mit sich selbst und mit anderen
Emotional Abhängige sind oft die nettesten Personen überhaupt. Allerdings auf eine passiv-aggressive Art, mit der man langfristig so seine Probleme bekommt. Denn wenn jemand ganz nett fragt, kann man schlecht nein sagen, ist nicht unbedingt glücklich – und das wiederum schneidet den emotional Abhängigen von seiner Glücksquelle ab!
Ein wichtiger Schritt ist also, ehrlich zu sein. Über die Grenzen hinaus auch deutlich zu sagen, wenn etwas verletzend war, wenn man sich etwas anderes vorgestellt hat oder wenn man sich ein bestimmtes Verhalten vom Partner wünscht. - Sich selbst aushalten
Emotionale Abhängigkeit bedeutet sehr oft, dass Alleinsein als schlimmste Strafe empfunden wird. Alles scheint besser zu sein, wenn der oder die Geliebte es teilen. Denn wer allein ist, muss sich zwangsläufig mit sich selbst befassen.
Emotional Abhängige mögen sich selbst aber gar nicht so sehr, was an ihrem mangelnden Selbstwertgefühl liegt. Sich selbst anzunehmen, sich selbst zu lieben und zu erkennen, wie viel Großartiges man im Alltag leistet – das ist der Weg aus der emotionalen Abhängigkeit.
Selbsttest: Wenn emotionale Abhängigkeit im Raum steht
Es ist immer einfacher, kritische Beziehungsmuster bei anderen zu erkennen. Bei sich selbst dagegen ist das schon schwieriger. Diese Fragen hier helfen dabei, die eigene Gefühlswelt genauer einzuordnen.
- Das perfekte Glück gäbe es bestimmt, wenn sich der Partner bzw. die Partnerin nur ein kleines bisschen ändern würde.
- In Gedankenspielen ist die Beziehung mit dem aktuellen Menschen eigentlich ganz anders als die Realität.
- Der Partner/die Partnerin schwächen immer wieder das Selbstwertgefühl.
- Das vom Partner/der Partnerin ausgesprochene “Es tut mir leid“ besänftigt sofort und macht selbst kritische Situationen in der Partnerschaft „wieder gut“.
- Eifersucht und besitzergreifendes Verhalten spielen eine (größere) Rolle in der Beziehung.
- Meistens ist der Partner/die Partnerin am eigenen Unglück schuld.
- Die Angst ist groß, ohne den Partner/die Partnerin nicht leben zu können.
- Stetige Anerkennung von außen – vom Partner, der Partnerin, von der Umwelt, den Kindern – ist wichtig, um sich selbst gut zu fühlen.
- Für die Liebe opfert man alles. Auch sich selbst.
Wer den meisten Punkten zustimmen kann, der hat eventuell eine emotionale Abhängigkeit entwickelt. Hilfe von außen und klare Worte an und mit dem Partner bzw. der Partnerin helfen dabei, sich aus diesen wenig hilfreichen Mustern zu lösen.